Lernkonzept und Kompetenzerwartungen
Die Unterrichtsmaterialien richten sich entsprechend der filmpädagogischen Altersempfehlung vor allem an Schüler*innen der Sekundarstufe II. Sie gehen dabei zum einen auf filmische Themen ein: Figuren analysieren, filmische Motive und Symbole erarbeiten, Gestaltung des Szenenbildes bewerten, den Film auf genretypische und -untypische Elemente untersuchen. Eingeflochten werden Fragestellungen, die über den Film hinausgehen und einen Bezug zum Wissenschaftsjahr 2019 herstellen: das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine reflektieren, die Frage nach Zielsetzungen und Grenzen bei der Konstruktion künstlicher intelligenter Systeme diskutieren. Im Einzelnen können Arbeitsblätter aus den Modulen „Künstliche Intelligenz – Grundlagen, Forschungsfragen und ethischer Diskurs“ und zum Film BLADE RUNNER einbezogen
werden. Hinweise dazu finden sich in den didaktischen Kommentaren zu den einzelnen Materialien.
Literaturhinweise
- Dominik Graf: Blade Runner. In: Alfred Holighaus (Hrsg.): Der Filmkanon. 35 Filme, die Sie kennen müssen. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 2013, S. 204-212.
- Benjamin Maack: Legende mit Fehlstart – 30 Jahre Blade Runner. www.spiegel.de/einestages/blade-runnerscience-fiction-klassiker-feiert-30-jaehriges-jubilaeum-a-947619.html (aufgerufen am 3.12.2018).
- Simon Staake: Blade Runner. www.filmszene.de/filme/blade-runner (aufgerufen am 3.12.2018)
- Ausführlicher Vergleich zwischen den verschiedenen Fassungen unter www.schnittberichte.com
Übersicht Unterrichtsmaterialien
Mögliche Unterrichtsszenarien
Der Film bietet vielfältige Anknüpfungspunkte für den Unterricht, vor allem in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern. Um den unterschiedlichen inhaltlichen Bedürfnissen gerecht zu werden, werden im Folgenden mehrere Unterrichtsszenarien vorgeschlagen.
Arbeitsmaterialien und Lösungshinweise
Arbeitsmaterial E 1: Jagd auf Androiden
Das Arbeitsmaterial dient der Vorbereitung auf den Kinobesuch und soll den Schüler*innen helfen, die Handlung zu verstehen. Mit den Aufgaben werden Fragestellungen aufgeworfen, die die Aufmerksamkeit auf Kernthemen des Films lenken. Insbesondere die letzte Aufgabe geht auch darüber hinaus, indem sie darauf verweist, dass die Herstellung intelligenter künstlicher Systeme reguliert werden kann (und muss) und dass dabei verschiedene Interessen aufeinanderstoßen könnten.
Arbeitsmaterial E 2: BLADE RUNNER – Auswertungsbogen
Der Auswertungsbogen soll dazu dienen, möglichst kurz nach der Filmsichtung Eindrücke und Fragen festzuhalten. Die Ergebnisse können dann zum einen als Einstieg in ein erstes Unterrichtsgespräch über den Film genutzt werden, aber auch im weiteren Verlauf der Nachbereitung wieder aufgegriffen werden (die ersten drei Fragen bei Arbeitsblättern mit einem filmischen Schwerpunkt, die letzten beiden bei Aufgaben, die sich mit ethischen bzw. technischen Aspekten des Themas Künstliche Intelligenz beschäftigen).
Arbeitsmaterial E 3: Film noir und Science Fiction
BLADE RUNNER wurde in den 1980er Jahren als innovativer und ungewöhnlicher Beitrag zum Genre Science Fiction wahrgenommen. Zugleich lassen sich klare Bezüge zur Filmtradition erkennen, insbesondere zum Film noir. Die Texte ermöglichen es den Schüler*innen, die Art der Genrezugehörigkeit und die Verankerung in der Filmtradition näher zu untersuchen. Ausgangspunkt ist jedoch zunächst die eigene, ganz subjektive Wahrnehmung.
Elemente aus dem Film noir: Rick Deckard ist in seinem gesamten Habitus, in der verschlossenen und skeptischen Weltsicht nahe an den Ermittlerfiguren des Film noir. Auch das Setting der Handlung hat eine gewissen Ähnlichkeit: Der Auftrag, die Replikanten zu töten, verwickelt Deckard in einen kaum lösbaren Konflikt und bringt ihn dazu, sich am Ende gegen den Auftrag, auch Rachael zu töten, zur Wehr zu setzen. Rachael als kühle und geheimnisvolle Frauenfigur entspricht allerdings nicht wirklich der Femme fatale des klassischen Film noir, die eine dunkle Seite hat und ihren männlichen Gegenpart zumeist aktiv ins Unglück stürzt. Wie im Film noir erscheinen die Figuren oft im Halbdunkel, allerdings arbeitet BLADE RUNNER auch mit kontrastarmen Motiven. Eine ganz eigene Wirkung entfalten die häufig auch in Innenräumen zu sehenden Lichtspiele der Werbeprojektionen.
Verhältnis zum Science-Fiction: Auf die Zurschaustellung bombastischer Raumschiffe und technikgetriebener visueller Effekte wartet man in BLADE RUNNER vergeblich. Während das, was im Weltraum passiert, nur über Dialoge vermittelt wird, spielt die visuelle Inszenierung einer zukünftigen urbanen Welt eine große Rolle. Der Film thematisiert zwar wissenschaftliche Visionen, nutzt sie aber nicht als Mittel schneller Action- und Kampfszenen. Diese sind im Gegenteil eher traditionell angelegt (Schießerei, körperliche Auseinandersetzung). Die Fähigkeit, künstliche Menschen zu erschaffen, dient vor allem dazu, nach Themen wie Identität, Menschsein und politische Machtverhältnisse zu fragen.
Publikumserfolg/Wirkung: Die Abweichungen von den Erwartungen an Science-Fiction-Filme haben sicherlich dazu beigetragen, dass BLADE RUNNER zunächst kein großer Erfolg war. Der Film musste sein Publikum erst finden, bzw. wurde er von vielen nicht sofort verstanden.
Arbeitsmaterial E 4: Rick und Rachael – fremde Erinnerung I
Zur Figurenanalyse wird hier eine Schlüsselszene zwischen Rick und Rachael genutzt. Zum ersten Mal öffnet sich hier der Blick ein Stück weit ins Innere der Figuren, ohne dass sie bereits zueinander finden. Das Arbeitsblatt bildet eine Einheit mit Material E 5, das vertiefend auf das Thema Erinnerung eingeht.
Das Bild vom Replikanten: Bislang ging es um die Jagd nach brutalen Kriminellen. Mit Rachael kommt eine empfindsame Person ins Spiel, die zur der bisher entwickelten Vorstellung von Replikanten in Kontrast steht.
Gedanken/Gefühle der Beteiligten: Rachael wird sich vermutlich fragen, warum Rick ihre Erinnerungen kennt und warum er sie bis ins Detail ausbreitet. Rick hingegen ist ihr Auftreten lästig. Er will sie loswerden, indem er sie demütigt. Am Ende ist Rachael gedemütigt, enttäuscht, vermutlich auch in Sorge um ihr Leben. Sie hält es nicht länger in Ricks Wohnung aus. Vielleicht hasst sie ihn für seine halbherzigen Entschuldigungen. Rick hingegen spürt, dass er zu weit gegangen ist, sieht aber wohl auch keinen Anlass sich zu grämen. Die ganze Sache lässt ihn trübselig werden.
Die Spinnen: Man könnte das Erinnerungsbild als Metapher deuten: Mit den Replikanten wurde eine neue Klasse von Lebewesen geschaffen, die Forderungen stellt und die die Menschen entmachten oder vernichten könnte.
Handlungsmuster Film noir: Die Konstellation stimmt im Grunde; Rachaels Existenz und seine Gefühle für sie bringen Rick in Schwierigkeiten; sie ist allerdings keine Femme fatale, sondern bleibt bis zum Schluss des Films eine Frau, die von Rick abhängig ist und seine Hilfe benötigt.
Deckards Veränderung: Am Ende stellt sich Deckard gegen seinen Auftrag, indem er Rachael zur Flucht verhilft. In dieser Szene ist davon noch wenig zu spüren. Die Verständigung zwischen beiden ist gescheitert, allerdings lenkt Rachaels Auftritt Ricks Aufmerksamkeit auf die Frage, welchen Wert seine eigenen Erinnerungen und Träume haben.
Arbeitsmaterial E 5: Rick und Rachael – fremde Erinnerung II
Das Arbeitsblatt knüpft an E 4 an und thematisiert die Frage nach Erinnerung und Identität mit Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen bei der Konstruktion künstlicher intelligenter Systeme. An dieser Stelle können auch Unterrichtsmaterialien aus dem Modul ergänzend eingesetzt werden (z. B. B 9, Chatbots testen; B 12, Was heißt „Autonomie“? oder B 13, Interview zur Maschinenethik).
Bedeutung von Erinnerung: Das Gefühl zu wissen, woher man stammt, ist für viele Menschen wichtig. Das wird beispielsweise dann deutlich, wenn sich herausstellt, dass ein Teil dieser Erinnerung auf Täuschung beruht (z. B. die eigenen Eltern sind nicht die biologischen Eltern). Es ist auch naheliegend, dass die Kindheit ein wichtiger Teil der Identität ist, da in dieser Zeit elementare Prägungen erfolgen und ein großer Teil der Lernprozesse stattfindet, die eine Grundlage für das Leben als Erwachsener bilden.
Chatbot/weitere Idee: Ein Chatbot könnte Menschen darin unterstützen, ihre Urlaubserlebnisse oder ihre gesamte Biografie aufzuschreiben.
„Ich denke, also bin ich“: Der Satz bringt ein Grundthema der KI-Forschung zum Ausdruck, nämlich die Frage, ob eine zunehmende Denkfähigkeit künstlicher Systeme irgendwann auch zur Entwicklung eines Bewusstseins führt. Der philosophische Rationalismus legt diese Annahme nahe. Die meisten Forscher glauben, dass auf Mikroprozessortechnik basierenden Systemen wichtige Erfahrungsdimensionen fehlen, um ein Bewusstsein zu entwickeln. Ihre Fähigkeit zur Selbstreflexion dient den Replikanten als Argument, für sich ein Recht auf ein längeres Leben zu fordern.
Arbeitsmaterial E 6: „Menschlicher als der Mensch“ I
Die Materialien E 6 und E 7 bilden eine Einheit. In diesem Fall führen die Fragestellungen nicht vom Film weg, sondern von außen an den Film heran. E 6 stellt ein Filmzitat einem Statement aus der gegenwärtigen Diskussion um die Entwicklung von KI-Anwendungen gegenüber.
Tyrells Zielsetzungen: Tyrell nennt zwei Hauptmotive für die Entwicklung von Replikanten: Profit und Kontrolle. Es geht um eine optimale „Ausstattung“, notfalls auch mit einer eigenen Erinnerung, wenn es dem jeweiligen Zweck des Replikanten entspricht.
Oliver Suchys Haltung: Suchy kritisiert genau die Position, die Tyrell vertritt. Allerdings tut er das nicht mit Blick auf mögliche Rechte der KI-Systeme, sondern mit Blick auf die Interessen derjenigen, die mit den KI-Systemen zusammenarbeiten müssen oder durch sie ersetzt werden. Denkbar ist allerdings, dass in der Zukunft auch Rechte von KI-Systemen diskutiert werden.
„Menschlicher als …“: Für Tyrell ist das Motto ein Werbeslogan, der auf die besonders hohe Leistungsfähigkeit der Replikanten hinweist. Oliver Suchy geht es um eine Humanisierung von Arbeitsprozessen, zu denen KI beitragen könnte.
Ethikrat: Grundsätzlich müsste es um die Frage gehen, ob man Replikanten aufgrund ihrer Menschenähnlichkeit Rechte, z. B. ein Recht auf Leben, auf Gleichbehandlung, auf Selbstbestimmung usw. einräumen muss. Wenn dies bejaht wird, würde sich das Verhältnis zwischen Menschen und Replikanten grundlegend ändern, im weitesten Sinne vergleichbar mit der Befreiung von Sklaven im 19. Jahrhundert.
Arbeitsmaterial E 7: „Menschlicher als der Mensch“ II
Das Arbeitsblatt greift eine Schlüsselsituation des Films auf, die Konfrontation zwischen Roy und seinem „Schöpfer“ Eldon Tyrell. Die Szene demonstriert, wie vielgestaltig und in sich widersprüchlich sich das Verhältnis zwischen Mensch und dem von ihm geschaffenen intelligenten Wesen gestalten kann.
Konflikt beschreiben: Roy fordert von Tyrell ein längeres Leben, dieser erklärt jedoch, dass es nicht mehr möglich ist, eine solche Veränderung vorzunehmen. Ob das stimmt, lässt sich nicht beurteilen. Roy hat sich zwar gut vorbereitet und weiß viel über die Konstitution von Replikanten, Tyrell bleibt aber intellektuell überlegen. Demgegenüber spielt Roy dann seine körperliche Überlegenheit brutal aus.
Wahrnehmung der Bluttat: Auch wenn man Roys Anliegen verstehen kann, lässt die brutale Tötung Tyrells den Zuschauer*innen zugleich zweifeln. Man weiß nicht, welche Maßstäbe an Roys Verhalten angelegt werden können. Er wirkt wie ein Mensch, ist aber keiner – dies spiegelt die grundsätzliche Situation im Verhältnis zu heutigen humanoiden Robotern wider. Man neigt dazu, in sie mehr Menschlichkeit hineinzuinterpretieren, als sie besitzen.
Roy und Moral: Roys Äußerungen („Ich habe fragwürdige Dinge getan“) lassen darauf schließen, dass er sehr genau weiß, was moralisch akzeptiert wird und was nicht. Andererseits besitzt er keinerlei Skrupel, sich weiterhin gegen moralische Maßstäbe zu verhalten. Erst bei der Begegnung mit Rick zeigt er eine Größe, die ihn tatsächlich „menschlicher als menschlich“ erscheinen lässt.
Alternative: Roy könnte versuchen, Verbündete gegen Tyrell zu finden, um Interessen der Replikanten durchzusetzen (was ihm selbst aber angesichts seiner kurzen Lebenszeit nichts mehr nützen würde). Tyrell als „Schöpfer“: Die Anrede „Vater“ und auch die körperliche Begegnung zwischen beiden (Tyrell streicht Roy über den Kopf) suggerieren eine Vertrautheit und eine religiöse Komponente, Letzteres wird durch die Bezeichnungen „Schöpfer“ („maker“ im Original) und „verlorener Sohn“ (the prodigal son) verstärkt. Die brutale Tötung Tyrells hat etwas Atavistisches. In dem Dialog, der zwischen Tribunal,
Fachdiskussion und Beichtgespräch pendelt, kommt eine schillernde Beziehung zum Ausdruck. Sie zeigt, dass im Verhältnis zwischen Mensch und künstlich geschaffenem Wesen nahezu alles möglich und wenig geklärt ist.
Arbeitsmaterial E 8: Stadt der Zukunft I
Die beiden Arbeitsmaterialien E 8 und E 9 gehen auf das Szenenbild ein und konzentrieren sich dabei auf die Idee einer zukünftigen Stadt, wie der Film sie vermittelt.
Inszenierung der Stadt: Die Szene zeigt etwas von der großen Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Stadt: Nonnen, Punks, verschiedene Ethnien, dazwischen der Ermittler mit seinem Trenchcoat-Look vor dem Hintergrund alter, monumentaler Gebäude. Typisch für den gesamten Film ist der Kontrast zwischen einer allgemeinen Dunkelheit und den grellen Lichtwirkungen der Werbeschriften und -projektionen. In diesem Fall tritt eine ausgesprochen deutliche Konzentration auf drei Farben hinzu (orange/schwarz/weiß). Prägend sind auch Enge und Überfüllung, die in dieser Situation dazu führen, dass Deckard über die dicht stehenden Fahrzeuge springt.
Stadtfoto Tokio: Viele Menschen auf einer großen Kreuzung, beleuchtete Werbedisplays, Regen und Regenschirme – das sind die Zutaten, die den Straßenbildern aus BLADE RUNNER entsprechen. Der Eindruck von Enge kommt aus dieser Kameraposition aber nicht zustande; es wird im direkten Vergleich zudem deutlich, wie konsequent im Film die Farbe Teil der Bildkomposition sind. Störend ist auch die Baumkrone im Vordergrund.
Regenwirkung: Feuchte Flächen sind dunkler als trockene; andererseits reflektieren und verstärken sie die Lichter der Reklamedisplays, insgesamt also eine Verschärfung von Hell-Dunkel-Gegensätzen. Das reflektierte Licht wirkt verzerrt und unwirklich. Menschen tragen Kapuzen oder Regenschirme, wirken isoliert und gehetzt, in der finalen Auseinandersetzung ist Deckard vollkommen durchnässt, was die scheinbare Aussichtslosigkeit seines Kampfes unterstreicht.
Arbeitsmaterial E 9: Stadt der Zukunft II
Stadtstrukturen: Neben den bereits erwähnten überfüllten Straßen spielen Gebäude und Wohnungen eine wichtige Rolle. So bilden die heruntergekommene Jugendstilarchitektur und die skurrile Bohemien- Wohnung von J.F. Sebastian eine eigenwillig romantisierende Kulisse für den Kampf zwischen Mensch und Replikant. Der palastartige Sitz der Tyrell Corporation, der die Stadt überragt, steht in maximalem Gegensatz zu den schmutzigen Straßenschluchten. Die pyramidenähnlichen Bauten erinnern in ihrer Monumentalität an die Architektur im Film METROPOLIS (Regie: Fritz Lang, Deutschland 1925/1926).
Vergleiche mit dem realen Los Angeles: Das ungeordnete Wachsen der Stadt und die großen Verkehrsachsen werden im Film nicht erkennbar, es scheint sich vielmehr alles auf einen Punkt zu konzentrieren. Parallel zur realen Entwicklung unterstreicht der Film die Vielfalt an Ethnien und Lebensstilen. Das Innenstadtleben wirkt chaotisch, lebhaft und die Stimmung ist teilweile aggressiv, es sind aber keine ethnischen Konflikte erkennbar. Polizeiautos mit Strahltriebwerken sind bis heute Fiktion geblieben, realitätsnäher wären Drohnen und Hubschrauber.
Wohnung von J.F. Sebastian: Der Gentechniker lebt wie ein Bohemien, er scheint in einer inneren Distanz zu den Zielen Tyrells zu stehen. Er ist ein Bastler und entwickelt künstliche Kreaturen, die wie belebte Spielzeugfiguren durch seine Wohnung marschieren; die Puppen als Erweiterung und Spiegelung menschlicher Existenz bilden einen Nebenstrang zum Hauptkonflikt zwischen den Replikanten und Tyrell. Pris versteckt sich, selbst als Puppe verkleidet, in dieser Zwischenwelt vor Deckard, kann ihm aber nicht entkommen.
Arbeitsmaterial E 10: Symbole im Film BLADE RUNNER
Aus der Fülle an Symbolen wurden zwei Beispiele herausgegriffen, um an ihnen exemplarisch die Funktion in der Filmerzählung zu erarbeiten.
Bedeutung des Auges: Das Auge wird bereits in der Antike als Organ beschrieben, das der Sonne gleicht und das deren Licht ins Innere des Menschen hereinlässt. Damit wird es zu einem Symbol der Erkenntnis, in der Zeit der Aufklärung auch im Sinne politischer Befreiung aus Unmündigkeit. In diesem Kontext liegt eine große Symbolkraft darin, dass der Voight-Kampff-Test über den Blick ins Auge verrät, ob jemand Mensch oder Replikant ist. In der Augenwerkstatt des Chinesen wird das Auge dagegen als ein bloßes Bauteil auf seine Funktion reduziert. Mit der Tötung Tyrells rächt sich Roy an der Instanz, die ihm Leben und Erkenntnis gegeben hat, indem er das Organ der Erkenntnis angreift – eine sehr symbolhaltige Bluttat. Zugleich ist es ein Akt der Barbarei und der Regression. Die Hoffnung, durch die Beherrschung und Nutzung einer künstlichen, gentechnisch erzeugten Spezies ein neues Level der Existenz zu begründen, wird hier zerstört.
Zusammenhang mit Fotos: Fotos sind optisch festgehaltene Momente. Sie dokumentieren Momente, sie lassen sich aber auch fälschen und zeigen dann, wie trügerisch eine Erinnerung sein kann (im Fall von Rachael); Auge und Foto hängen eng zusammen; ohne Auge ergibt das Foto keinen Sinn, umgekehrt sind es auch oft Fotos (Passfotos, Beweisfotos usw.), die eine Identität nachweisen oder eine bestimmte Erkenntnis festhalten sollen.
Taube als Symbol: In der Antike stand die Taube für Sanftmut und Unschuld. Man nahm an, dass die Vögel keine Galle besitzen und deshalb frei sind von Bitterkeit oder Bösem. In der biblischen Tradition ist die Taube eine Botschafterin von Hoffnung; sie überbringt den in der Arche eingeschlossenen Menschen und Tieren einen grünen Zweig als Beweis, dass die Sintflut zurückgeht. Heute gilt die Taube bei uns vor allem als Friedenssymbol.
Wenn die weiße Taube im Moment von Roys Tod auffliegt, kann man das als Zeichen von Hoffnung deuten. Roy hat gezeigt, dass er zu moralischem Handeln in der Lage ist. Stellvertretend für die Replikanten hat er gewissermaßen den Menschen eine Hand ausgestreckt, damit das zukünftige Zusammenleben anders gestaltet wird als bisher. Man könnte den Augenblick anknüpfend an das Gespräch mit Tyrell auch im engeren Sinne religiös deuten (die Seele fliegt in den Himmel).
Die Eule: Sie steht als Jäger und Nachtvogel im Gegensatz zur Taube, was das Machtverhältnis zwischen Tyrell Corporation und Replikanten noch einmal versinnbildlicht. Sie ist eine künstliche Eule, deren Augen gefährlich rot leuchten.
Bewertung von Symbolen: Ob man die Symbolik als übertrieben wahrnimmt, ist natürlich Geschmackssache. Es hat aber auch mit dem Kontext zu tun. In einem reinen Action-Film würden die Bilder vom Tod Roys vermutlich kitschig wirken; in einem Film wie BLADE RUNNER, der die Ereignisse von Anfang an ästhetisiert und zu dessen Konzept ein hohes Maß an visueller Aufladung gehört, stechen sie nicht sonderlich hervor. Insgesamt können Symbole dazu beitragen, einer Filmhandlung einen inneren Zusammenhang zu geben (wenn sie an verschiedenen Stellen im Film auftauchen). Sie verweisen zugleich auf die Welt, die außerhalb der Handlung existiert, und ziehen Verbindungen zu nichtfiktionalen Wahrheiten. Dadurch erhält die Handlung mehr Tiefe und Überzeugungskraft.
Arbeitsmaterial E 11: BLADE RUNNER – Work in progress
Das Arbeitsblatt regt an, über die Unabgeschlossenheit künstlerischer Prozesse zu reflektieren. Zudem wird eine offene Frage angesprochen, die bereits viele Filmkritiker*innen beschäftigt hat.
Happy End: Viele Filmzuschauer*innen waren 1982 der Meinung, dass ein Happy End nicht zur Erzählweise des Films passte. Es war ein Zugeständnis an vermeintliche Erwartungen. Ein Happy End, das sich nicht zum Ganzen fügt, kann die Glaubwürdigkeit der Handlung zerstören.
Verschiedene Versionen: Dass es nur eine gültige Fassung eines Kunstwerkes gibt, ist Teil eines Kunstverständnisses, das sich erst in der Neuzeit etabliert hat. In den Werkstätten von Renaissance-Malern wie Lucas Cranach d. Ä. entstanden oft mehrere ähnliche Werke (z. B. das beliebte Motiv „Venus und Amor“). Auch Johann Sebastian Bach verwendete Kompositionen mehrfach, versah sie mit neuem Text und fügte sie in andere Werke ein. In der Moderne wird die Vorstellung eines statischen Kunstwerkes von verschiedenen Seiten in Frage gestellt: Andy Warhol thematisierte die Reproduktion äußerlich identischer Waren, Joseph Beuys schuf Kunstwerke aus verderblichen Lebensmitteln, der Komponist John Cage „schrieb“ mit „4‘ 33‘‘ ein Werk, das nur aus Stille besteht und die Vorstellung eines gestalteten Kunstwerks insgesamt in Frage stellt. Die Möglichkeiten digitaler Bearbeitung erleichtern Modifikationen und den Remix von Werken.
Deckard als Replikant: Diese Lesart würde der Filmhandlung noch einmal einen reizvollen Twist geben, würde aber auch einige zusätzliche Widersprüche in der Handlung entstehen lassen. So wäre es für die Polizei ein Risiko, einen Replikanten auf die Jagd nach anderen Replikanten anzusetzen. Es würde sich die Frage stellen, warum Deckard, der viel Erfahrung mit dem Enttarnen von Replikanten hat, sich bislang noch nie selbst gefragt hat, ob er ein Replikant sein könnte. Wenn er aber selbst von Anfang an weiß, dass er ein Replikant ist, würde er vermutlich anders agieren. Auch Tyrell müsste diese Information haben – er würde vermutlich ebenfalls anders mit ihm reden.